Wegen Chemnitzer Demo von 2018: Diese Frau verklagt den Freistaat Sachsen

Am Rande einer Demo im Herbst 2018 geriet eine Frau in einen Kessel der Polizei. Vier Stunden lang wurde sie festgehalten. Zu Unrecht, wie sie findet. Die Verhandlung begann mit einer Entschuldigung.

Chemnitz.Die Klägerin ist aus Nordrhein-Westfalen angereist. Die Polizeidirektion Chemnitz hat als Vertreterin des Freistaats Sachsen, der heute der Beklagte ist, niemanden geschickt. Muss sie auch nicht, erklärt der vorsitzende Richter Thomas Ranft. Verhandelt wird trotzdem.
Die Klägerin ist Michèle Winkler. Sie verklagt den Freistaat, weil sie am 1. September 2018 vier Stunden lang gemeinsam mit rund 350 Personen auf dem Johannisplatz in Chemnitz festgehalten wurde.

Zu unrecht, wie sie findet. Zur Verhandlung kommt es erst jetzt. „Das tut mir persönlich leid“, sagt der Richter. Es sei unentschuldbar, dass die Sache schon so lange her sei. Jedoch könnten weder er noch die übrigen vier Personen der Gerichtsbesetzung etwas dafür, da niemand von ihnen länger als ein Jahr am Verwaltungsgericht arbeite.

Vier Stunden eingekesselt von der Polizei

Michèle Winkler stammt aus dem Erzgebirge. In jenen Tagen 2018 war sie zufällig auf Familienbesuch. Am 1. September, knapp eine Woche nach dem Tod von Daniel H. am Rande des Chemnitzer Stadtfestes, fand die Demonstration „Herz statt Hetze“ statt. Sie stellte sich einem rechten Aufmarsch aus AfD, Pegida und Pro Chemnitz entgegen. Rund 8000 Menschen zählte die Polizei bei diesem. Rund 1500 Personen waren auf der „Herz statt Hetze“-Demo. „Die rechten Aufmärsche haben mich berührt. Ich wollte zeigen, dass ich dagegen bin“, sagt Michèle Winkler.

Sie habe die Demo auf dem Platz vor der Johanniskirche verlassen, sei durch die Innenstadt gelaufen, um auch den rechten Aufmarsch zu sehen. Sie stand zwischen Rotem Turm und Johannisplatz, als sie kurz vor 18 Uhr von behelmten und rennenden Polizisten ohne Ansprache auf den Johannisplatz gedrängt wurde. Bis 22 Uhr war sie mit rund 350 Personen dort festgesetzt. Die Polizei gab 19 Uhr per Lautsprecher bekannt, dass allen Landfriedensbruch vorgeworfen werde und man die Personalien aufnehme. 22 Uhr habe die Polizei vielleicht von einem Drittel die Personalien gehabt und den Kessel wieder aufgelöst. Da frage sie sich doch, wozu sie festgehalten wurde. Aber nach fast sechs Jahren fühle es sich „fast ein bisschen sinnlos an“, diese Verhandlung zu führen.

„Es gab kein anderes Mittel“

Richter Thomas Ranft trägt die Meinung des Freistaats vor. Es sei darum gegangen, genehmigte Versammlungen zu gewährleisten und Straftaten zu verhindern. Dann erklärt er, ab der Lautsprecherdurchsage um 19 Uhr, dass die Personen wegen Landfriedensbruchs festgehalten werden, greife die Strafprozessordnung. Dieser Teil wird als Verfahren abgetrennt. Er wird schriftlich am Amtsgericht Chemnitz verhandelt werden.

Was den Teil betrifft, über den das Verwaltungsgericht entscheidet, „dürfte die Klage unbegründet sein“, so der Richter. Auf der Brückenstraße habe es eine Sitzblockade gegeben, die den Aufzug der Rechten stören sollte. Mit der Festsetzung der 350 Personen habe die Polizei verhindern wollen, dass diese noch mehr Zulauf erhält. Außerdem hätten Straftaten, die vor der Einkesselung begangen wurden, aufgeklärt werden sollen. Laut Gesetz darf dabei die Polizei auch gegen Unbeteiligte vorgehen, da sie nicht personengenau differenzieren könne. „Die Maßnahme war erforderlich, es gab kein anderes Mittel“, so Ranft.

Anwalt möchte Zeugen hören

Christian Mucha, Winklers Anwalt, sieht die Dinge anders. Ihm sei nicht bekannt, dass die Sitzblockade als Straftat verfolgt worden sei. Die Polizei bleibe in ihren Ausführungen, welche Straftaten durch das Einkesseln verhindert werden sollten, zu schwammig. Überdies hätte es genügt, den Zugang zur Sitzblockade zu versperren.

Der Anwalt beantragt, dass der Vorgesetzte der Bereitschaftspolizei jenes Tages als Zeuge geladen wird. Denn aus den Akten sei erkenntlich, dass dieser anwies, die Personen auf den Johannisplatz zu drängen, aber in dem Glauben war, sie könnten ihn auf der Seite zur Bahnhofstraße wieder verlassen. „Es ging nur um die Trennung der Lager“, so Mucha. „Es gab keine Straftaten vorher.“ Das Gericht berät nun, ob die Klage abgewiesen wird, oder ob der Zeuge geladen und die Verhandlung fortgesetzt wird.